Marburger Blindenstudienanstalt Blista feiert Hundertjähriges

**Marburg.** In Marburg leben geschätzte 1.400 Blinde. Sie bereichern die Stadt. Sie treten selbstbewusst auf. Das ist ein Verdienst der Blista, der Deutschen Blindenstudienanstalt, die in diesem Jahr ihr 100-jähriges Bestehen feiert.

Man muss das so ganz krass sagen: Vor 100 Jahren standen Blinde und stark Sehbehinderte am Rande des Gesellschaft. „Bis zum ersten Weltkrieg waren Blinde arme Schweine“, sagt der streitbare Heinz Will Bach. Er ist 2. Vorsitzender des Deutschen Vereins der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf (DVBS). Blinde wurden kaserniert und von der Umgebung abgeschottet. Eine Teilnahme am gesellschaftlichen Leben war kaum möglich.

Als im Weltkrieg viele Menschen, darunter auch viele Akademiker, ihr Augenlicht verloren, ließen diese sich die Marginalisierung nicht mehr gefallen. Sie gründeten im Frühjahr 1916 die Vorläuferorganisation des DVBS und im Herbst 1916 die Blista.

Blista-Direktor Claus Duncker (Bild: m_)
(Bild: Blista-Direktor Claus Duncker.)

Seither hat sich viel getan. Blinde sind inmitten der Gesellschaft angekommen. Ein Meilenstein war sicherlich der Import des Blinden-Langstocks (in den 1970er Jahren aus den USA nach Marburg), mit dem sich Sehbehinderte nicht mehr stochernd, sondern souverän und sicher ihre Umgebung und Laufrichtung ertasten können.

Die Blista umfasst vier Bereiche. Im Gymnasium können Blinde und Sehbehinderte bis zum Abitur gelangen. Einmalig für Deutschland. Die rund 270 Schülerinnen und Schüler wohnen teils im Internat auf dem Blista-Campus, teils in Wohngruppen in der Stadt. Weitere Bereiche sind berufliche Ausbildungsgänge, Reha-Einrichtungen für Jung und Alt, sowie die Bibliothek und Hörbücherei.

Mit einem Expertenforum „Zukunft der Arbeit“ versuchte die Blista in diesen Tagen eine Positionsbestimmung. Hauptschwerpunkt ihrer Arbeit und auch Überzeugungsarbeit ist die Inklusion der Blinden in der Arbeitswelt. Da arbeiten die rund 400 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an gleich zwei Fronten: Sie müssen die körperlich eingeschränkten Sehbehinderten fürs Berufsleben motivieren und auch Berührungshemmungen bei potenziellen Arbeitgebern auflösen.

„Barrieren entstehen im Kopf. Inklusion entsteht in der Begegnung“, sagt Christian Mittermüller vom Hessischen Ministerium für Soziales und Integration. Sein Ministerium fördert die Inklusionsprojekte mit 600.000 Euro. Mittermüller kann nur dafür werben, dass Behinderte am Arbeitsplatz nicht nur Hilfsempfänger sind, sondern durch ihre sozialen Kompetenzen, ihr spezifisches Know-how auch etwas geben können. „Aus Vielfalt entsteht Kreativität. Und das ist der Motor für Neues.“

Diese Erfahrung machte beispielsweise auch Reinhard Wagner vom Frankfurter Flughafenbetreiber Fraport. Erst ein Sehbehinderter als Praktikant in der IT-Abteilung öffnete den dortigen Mitarbeitern die Augen für die spezifischen Bedürfnisse von Behinderten. Wagner ist auch Vorstand im Unternehmensforum Rhein-Main. Seit dem Jahr 2014 gibt es dort das Projekt Inklusion, in dessen Rahmen schon 40 Ausbildungsplätze an Behinderte vergeben wurden.

„Bislang wird Inklusion immer nur für die Schule diskutiert“, stellt Blista-Direktor Claus Duncker fest. Doch für Sehbehinderte fängt danach der Härtetest erst an. „Nach der Schule haben die Leute noch 50 Berufsjahre vor sich“, sagt Duncker. Von rund 36.000 Blinden im erwerbsfähigen Alter haben nur 30 Prozent eine feste Stelle im ersten Arbeitsmarkt. „Wir stehen vor großen Herausforderungen“, sagt Duncker.

Die Blista versucht daher beispielsweise mit dem Projekt „Inklusion und Innovation“ die Blinden und Sehbehinderten auf den ersten Arbeitsmarkt vorzubereiten. „Wir beraten die Menschen und planen Integration und Jobsuche“, sagt Projektleiterin Ute Mölter. Das Auftreten bei einer Bewerbung wird genauso geübt wie die sozialen Kompetenzen. „Die Teilnehmer sollen Experten in eigener Sache werden, nämlich ihrer Sehbehinderung“, sagt Mölter.

Entsprechend selbstbewusst treten die Blinden und Sehbehinderten auf. Mit der Wirtschaftsförderung Kompass aus Frankfurt entwickelt die Blista Konzepte, wie Blinde eigene Unternehmen gründen können. Andere Projekte widmen sich dem Übergang von der Schule in den Beruf, etwa durch eine duale Ausbildung. „Das garantiert die maximale Übernahmechance“, erläutert Susanne Patze vom Frankfurter Projektpartner Fokus-Arbeit.

Hans-Peter Klös vom Institut der Deutschen Wirtschaft Köln (Bild: m_)
(Bild: Hans-Peter Klös über die Digitalisierung.)

Große Herausforderung auch für Blinde ist die Digitalisierung. Sie ist Segen und Fluch zugleich, sagte Blista-Direktor Duncker. Einerseits erleichtere sie die Informationsbeschaffung über das Internet. Andererseits sind viele Programme, Web-Seiten und Softwaretools nicht barrierefrei.

Doch gerade der Bedarf an IT-Fertigkeiten steigt. Denn auf dem Arbeitsmarkt wird die Digitalisierung zu mehr Jobs führen, sagt Hans-Peter Klös vom Institut der deutschen Wirtschaft Köln auf der Tagung. Der Volkswirt meint, dass viele Innovationen in der Digitalwirtschaft, etwa rund ums Smart Home, die Autonomie von Behinderten in ihrer Umgebung erhöhen können. Gleichzeitig brauchen Behinderte aber auch die digitalen Skills für die moderne Arbeitswelt.

Das hat auch die Blista erkannt. Sie bildet nun auch IT-Fachkräfte aus. Die ersten 30 Auszubildende starten dieses Jahr. Sie lernen neben der kaufmännischen Seite auch das Programmieren. Über sogenannte Screen-Reader und Blindenschrift-Zeilen ist das kein Problem. Da Arbeitgeber immer häufiger auch Erfahrungen mit der Software SAP fordern, wird auch das jetzt ins Curriculum integriert.

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