Die sagenumwobene Enigma gab den Auftakt zu einer Geheimsprachen-Reihe am Mathematikum in Gießen

**Gießen.** Geheimsprachen faszinieren. Schon Kinder erfinden mit der Löffelsprache spielerisch einen Code, um sich von Erwachsenen mit spitzen Ohren abzugrenzen. Die Kinder verdoppeln den Vokal einer Silbe, etwa „a“ zu „alewa“, und verschlüsseln die Frage „Hast du Zeit?“ zu „Halewast dulewu Zeileweit?” Erwachsene Ohren sind dafür zu träge oder zu ungeübt. Sie verstehen nur einen Einheitsbrei. In Schriftform ist der Code indes sofort geknackt, da das Muster offenbar wird.

In der Geschichte des Verschlüsselns haben denn auch Heerscharen an Mathematikern versucht, Geheimsprachen – also Verschlüsselungssysteme – zu erfinden, die keinerlei Muster aufwiesen. Andere wiederum setzten alles ein, um eben doch solche Muster fürs Codeknacken zu finden. Die einen meinten, das System sei sicher. Die anderen haben es dann doch geknackt. So auch bei der Enigma.

Albrecht Beutelspacher und die Enigma im Mathematikum. (Bild: m_)
(Bild: Albrecht Beutelspacher und die Enigma im Mathematikum.)

Das Mathematikum in Gießen hat jetzt so eine sagenumwobene Verschlüsselungs-Maschine des Zweiten Weltkriegs erworben. Ein Nachbau. 30.000 Euro teuer, 12 Kilogramm schwer. Für besondere Anlässe holt Museumsdirektor Albrecht Beutelspacher das Scheibmaschinen-artige Gerät aus der Vitrine. Dann dürfen unter Aufsicht und Anleitung auch Besucher in die Tasten hauen. Der Auftritt von Joel Greenberg aus den englischen Bletchley Park war so ein Anlass.

Der Mathematiker und Historiker Greenberg erläuterte im Rahmen einer dreiteiligen Enigma-Vortragsreihe die Entstehungsgeschichte der Maschine, ihre Verwendung durch nazideutsche Militärs und Behörden sowie die Entschlüsselung. „Durch das knacken der Enigma ist der 2. Weltkrieg sicher um zwei Jahre verkürzt worden. Das hat ungezählten Menschen das Leben gerettet“, erklärt Greenberg.

Nazideutsche Einheiten verschlüsselten Botschaften, wie etwa Befehle oder Wetterberichte, mit der Enigma in eine Art Buchstabensalat. Der wurde dann über Funk per Morse-Alphabet versandt. Jeder konnte mithören und mitschreiben (ähnlich wie heute im offenen Internet), doch der Buchstabensalat blieb erst mal ungenießbar. Fürs Codeknacken und die Entschlüsselung bauten die Briten ab 1938 einen Landsitz, den Bletchley Park, zu einer Baracken-Kleinstadt mit rund 10.000 Beschäftigten aus. Darunter befanden viele Spezialisten etwa für Mathematik wie Alan Turing und Gordon Welchman oder für Sprachwissenschaften wie Dilly Knox. Die Mathematiker suchten beispielsweise nach Mustern und Lücken im System. Ein Fauxpas in der Konstruktion der Enigma war beispielsweise, dass beim Drücken eines Buchstabens nie der gleiche Buchstabe heraus kam. Die Sprachwissenschaftler versuchten „wahrscheinliche Worte“ zu raten, etwa „Oberkommando“ oder „Wetterbericht“, um das Entschlüsseln zu vereinfachen und abzukürzen.

Albrecht Beutelspacher und Joel Greenberg. (Bild: m_)
(Bild: Albrecht Beutelspacher und Joel Greenberg)

Wenngleich viele Informationen noch unter Verschluss sind, Bletchley Park ist seit dem Jahr 1991 für die Öffentlichkeit zugänglich und als Museum hergerichtet. „Hunderttausende Funksprüche wurde dort im zweiten Weltkrieg entschlüsselt“, erklärt der Historiker Greenberg. In Teilen wurde die elektro-mechanisch arbeitende Enigma nachgebaut und simuliert, ferner setzten die Codeknacker auf eine automatisierte Datenverarbeitung, den Vorläufern moderner Computer. Dauerte es Anfangs etliche Stunden, einen Funkspruch zu dekodieren, brauchten die Briten später nur Minuten.

Stress und Katastrophenstimmung kam immer dann auf, wenn die Deutschen ihre Verschlüsselungssysteme änderten. Dann mussten die Briten unter Umständen das Puzzlestück ganz von vorn beginnen. Dabei half aber, dass man Engimas in aufgebrachten U-Booten samt Anleitungen und Codebüchern fand. Meist machten die Analysten von Bletchley Park, das rund 50 Kilometer nördlich von London liegt, genau dann Fortschritte, wenn den deutschen Bedienern der Enigma ein Bedienungsfehler unterlief.

Und die traten zuhauf auf. Beispiele sind: Ein Fernmelder sendet den Text zweimal. Beim zweiten Eintippen auf der Schreibtastatur entstehen aber unwillkürlich Tippfehler oder -varianten. Anhand der unterschiedlichen Codierung des gleichen Texts können die Analysten besser auf den zugrunde liegenden Schlüssel schließen. Die Engländer nannten so einen Treffer einen „kiss“ (Kuss). Oder: Dieselbe Nachricht wird mit verschiedener Verschlüsselung an mehrere Adressaten versandt.

Häufig provozierten die Engländer solche Konzept- oder Bedienfehler. Das nannten sie dann „Gartenpflege“. Ziel war immer, den für den aktuellen Tag, ab exakt 00:00 Uhr gültigen Tagesschlüssel zu knacken. Dann lagen alle Funksprüche für den Mithörer offen. Da die Deutschen über rund 120 Enigma-Netzwerke verfügten, mussten entsprechend viele Codes geknackt werden.

Militärische Anwendungen stehen hier ganz klar als Geburtshelfer der modernen Datenverarbeitung und Computerei. Und auch sonst hatte Greenberg noch einige Überraschungen parat. Genauso wie heute die sogenannten Meta-Daten helfen, Bewegungsprofile oder Freundeskreise von Personen zu erstellen, konnten auch die Briten im 2. Weltkrieg aus Daten wie „Wer mit wem kommuniziert“ Kommandostrukturen herausarbeiten. Für jede entschlüsselte Person wurde eine Karteikarte angelegt, worauf jegliche Information zu dieser Person gesammelt wurde.

Inzwischen ist die Sammelwut in der digitalen Wirtschaft angekommen. Auch die Onlinedienste wie Amazon, Facebook und Google legen systematisch ihre Kundenprofile an. Und der US-amerikanische Geheimdienst NSA saugt im Internet alles ab, was verwertbar erscheint. Seine Mathematiker scheinen sich aber an aktuellen Verschlüsselungssystemen die Zähne ausgebissen zu haben, sodass der Geheimdienst sogenannte Hintertüren fordert oder Computerkonzerne wie Apple zur Kooperation zwingen will. Am Grundsatz hat sich über einhundert Jahre nichts geändert. Die Geheimdienste setzen alles ein, um den Code der Anderen zu brechen: Spionage, Drohung, viel Personal und extreme Rechenpower.
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In weiteren Enigma-Vorträgen gehen zwei hochkarätige Forscher auf die Kunst des Verschlüsselns ein. Am 15. März referiert Ansgar Heuser über „Von der Magie zur Wissenschaft - Kryptographie in Vergangenheit und Gegenwart”. Heuser war einmal der Chef-Kryptograph des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI). Spannend wird’s auch am 25. April. Dann stellt sich Jörg Schwenk mit seinem Vortrag “Der Algorithmus AES und wie man ihn knacken kann” der Frage, wie sicher unsere Bankgeschäfte und Kommunikation sind. Die beruhen nämlich auf dem Verschlüsselungsalgorithmus AES. Jörg Schwenk erforschte Sicherheitstechniken bei der Deutschen Telekom und hat jetzt einen Kryptographie-Lehrstuhl an der Ruhr-Universität Bochum. Die Vorträge finden jeweils um 19.30 Uhr im Mathematikum Gießen statt. Eintritt für fünf Euro. Für Schülerinnen, Schüler und Studierende ist der Eintritt dann frei.

"Jetzt erst recht" -- mögen sich viele Menschen sagen: Das Verschlüsseln der E-Mail ist zwar umständlich und meist auch gar nicht notwendig (etwa beim Versand von Inhalten auf dem Level von Kochrezepten), doch irgend etwas möchten die Menschen dem Ausspähen und der Datensammelwut von Geheimdiensten und auch offenen Diensten (Google et al.) entgegen setzen. Sogenannte Cryptopartys nehmen wieder Fahrt auf. Dort treffen sich Interessierte und Betroffene, um sich über Verschlüsselung und Datensicherheit auszutauschen. Auf deren Homepage gibt's auch ein interessantes Handbuch (auf Englisch), das eigentlich alle Tipps und Tricks auflistet.


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