**Gießen.** Die Energiewende in Deutschland ist und war alternativlos (also das Abschalten aller AKWs bis 2020, sowie der favorisierte Ausbau der erneuerbaren Energien wie Wind, Solar, etc), die Durchführung der Energiewende ist zuweilen planlos. Letzteres spielt ihren Gegnern in die Hände, die sich etwa an der zunehmenden Verspargelung der Landschaft in Mittelhessen und darüber hinaus aufregen.

Diesen Kritikern fehlt das große Bild.

Daher war es aufrüttelnd, dass Mojib Latif -- derzeit Deutschlands bekanntester Klimaforscher -- in einem Gastvortrag der jüngsten Klimakonferenz der Pflanzenforscher an der Justus-Liebig-Universität Gießen diese Gesamtbild nochmal zeichnete.

Christoph Müller und Mojib Latif (r.) auf der Klimakonferenz in Gießen. (Bild: m_)

Der Kieler Klimaforscher Latif blieb dabei weitest gehend optimistisch: Wir können das noch schaffen, nämlich das 2-Grad-Ziel (soweit darf sich die Erdatmosphäre bis 2100 erwärmen), um die Auswirkungen des Klimawandels noch einigermaßen zu beherrschen.

Latif analysierte die Ursachen: Die Menschheit verbraucht zu viel Energie, insbesondere verbrennt sie zu viele fossile Energieträger dafür, die dann als Treibhausgas CO2 die Erdatmosphäre erwärmen. Die Folgen: Klimazonen verschieben sich. Wetterphänomene wie etwa Extremereignisse (Starkregen in Europa, Hurrikane im Golf von Mexiko) nehmen zu. Der Meeresspiegel steigt (derzeit rund 3,4mm pro Jahr). Der Eispanzer von Grönland schmilzt dahin. Bald ist das Nordpolarmeer im Sommer eisfrei (friert im Winter allerdings wieder zu).

Klimaforscher Latif zitierte dazu Roger Revelle (1909-1991), der schon in den 1980er Jahren sagte, die Menschen starten ein gigantisches geophysikalisches Experiment, das es in der Erdgeschichte so noch nicht gab und auch nie wieder geben wird.

Seit den Aufzeichnungen der Erdoberflächen-Temperaturen aus dem Jahr 1880 bis heute stiegen die Durchschnittstemperaturen um 1 Grad Celsius. "Das hört sich wenig an", sagt Latif, "doch zwischen Eiszeit und Warmzeit liegen auch nur 5 Grad Celsius."

"My question is: which world do we want" -- welche Welt wollen wir, fragte Latif sich und das Publikum. Das 2-Grad-Ziel ist erreichbar. Alle Techniken dafür sind verfügbar. Und dass Politiker und andere Entscheidungsträger das Kostenargument anführen: Alles zu teuer; das hält Latif schlicht für kurzsichtig und dumm. Selbst das 2-Grad-Ziel als Absichtserklärung und Ergebnis des jüngsten Klimaschutzkonferenz in Paris (COP21) vermeide bestenfalls das Schlimmste, meint Latif.

In seiner Argumentationskette hat Mojib Latif da gewichtige Schützenhilfe, indem er den US-Präsidenten Barack Obama zitiert, der wiederum den Bürgerrechtler Martin Luther King Jr. zitiert mit:

"There is such a thing as being too late."

Klimaforscher haben ja viele Informationen und viel Wissen über den kommenden Klimawandel zu Tage gefördert. Doch trotz der großen und kleinen Lücken in den Modellen und Simulationen, den großen und kleinen Streits und Diskussionen innerhalb der Forscherzunft, sollte uns klar sein: Da kommt was auf uns zu. Der Klimawandel kommt. Den Stand des Wissens haben nun US-amerikanische Forscher in einem Dokument "What We Know" zusammen gefasst und auf eine eigens eingerichtetet Website der AAAS gestellt: http://whatweknow.aaas.org

Eberhard Umbach ist kein Klimaforscher, der heutige Präsident des Karlsruhe Instituts für Technologie (KIT) ist Physiker und Fachmann für Energie. Was er zur Energiewende zu sagen hat, hat also Hand und Fuß. Die Begründung für die Energiewende liegt aber in der Klimaforschung: Die hohen Energieverbräuche produzieren massenhaft CO2, das in die Atmosphäre entlassen wird und zur globalen Erwärmung führt, sprich: dem Klimawandel.

Der vorindustrielle Wert lag bei den bekannten 280ppm CO2 (280 CO2-Moleküle unter 1 Million Luftmolekülen). Seit diesem Mai ist die 400ppm-Schwelle durchbrochen. "Es ist [in den Klimamechanismen] noch nicht alles verstanden", darin hat Umbach recht.

Doch wenn Umbach in seinem Vortrag am Max-Planck-Institut für Intelligente Systeme, Stuttgart, den Anschein erweckt, es gäben noch keine klaren Anzeichen für den Klimawandel, etwa beim Meeresspiegel, so liegt er daneben. Zwar bringt jede neue Studie auch ein neues Ergebnis, doch dürfte klar sein, dass der Meeresspiegel langsam ansteigt. Die Messungen liegen bei einigen wenigen Millimetern pro Jahr. (Siehe auch hier und zum Stöbern hier.)

Zum Bild: Meeresspiegelvariation zw. 1960 und 2010. Orange: +1mm/Jahr; tiefrot +4mm/Jahr; tiefblau: Pegelfall -4mm/Jahr (c) PSMSL.org
(Zum Bild: Meeresspiegelvariation zw. 1960 und 2010. Orange: +1mm/Jahr; tiefrot +4mm/Jahr; tiefblau: Pegelfall -4mm/Jahr (c) PSMSL.org)

Die Reaktion des Klimas auf den Menschen ist also real. Der Meeresspiegel ist dabei ein kleiner, einfacher, klarer, wenngleich träger Indikator. Anderen Indizien wie Wetter, Temperaturverteilung, Niederschläge, Stürme ist dabei statistisch viel schwerer nachzukommen.

Die Horrormeldung kam erst diese Woche vom Potsdam Institut für Klimafolgenforschung: Pro Grad Celsius zusätzliche Erwärmung steigt der Meeresspiegel um 2 Meter -- langfristig über Dekaden und Jahrhunderte. Bisherige Abschätzungen haben nämlich das Abschmelzen der Eisschilde an den Polen und der Gletscher nur unzureichend eingerechnet. Doch das ist eine Prognose.

In seiner Gesamtanalyse hat Umbach indes recht: Wissenschaft, Politik und Gesellschaft müssen alle Anstrenungen unternehmen -- aus dem Wissen um Klimafolgen heraus oder dem Vorsorgegedanken geschuldet --, um den Klimawandel abzuwenden, abzuschwächen oder sich auf ihn einzustellen.

Deutschland hat als einziges wichtiges Industrieland über die vergangenen Dekaden seinen CO2-Ausstoß stetig verringert (1971: 1000 Millionen Tonnen CO2, 2006: 800 Millionen Tonnen CO2). Damit werden wir den Klimawandel nicht aufhalten, doch "können wir Maßstäbe setzen, Vorbild sein und Technologien entwickeln", sagt Umbach zurecht.


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